Interview mit Dr. Alexander Tourneau

Zum Abschluss unseres Jubiläumsprojekts wagen wir den Blick nach vorn: Welche Erkenntnisse haben wir durch die intensive Beschäftigung mit einhundert Jahren Leben in Braunschweig gewonnen? Was können wir aus der (eigenen) Geschichte lernen und wie sehen die heutigen und zukünftigen Herausforderungen der Öffentlichen Lebensversicherung Braunschweig aus?
Über diese und weitere Fragen sprach die Historikerin Dr. Vanessa Erstmann mit Vorstandsmitglied Dr. Alexander Tourneau, zuständig für den Bereich Lebensversicherung, im Rahmen unserer großen Jubiläumsveranstaltung am 24. Oktober 2024.
Die wesentlichen Aussagen haben wir zum Nachlesen zusammengefasst.
Herr Dr. Tourneau, Sie haben das Jubiläumsprojekt „100 Jahre Leben“ angestoßen und eng begleitet. Welche Erkenntnisse nehmen Sie aus der Rückschau auf 100 Jahre Öffentliche Lebensversicherung Braunschweig mit?
Dr. Tourneau: Der Blick in die Geschichte zeigt, dass es eigentlich nicht die eine große Linie gibt, sondern dass die Geschichte vor allem von Brüchen geprägt ist, die es zu meistern galt. Aus der Rückschau auf die Geschichte unserer Lebensversicherung nehme ich zwei wesentliche Erkenntnisse mit.
Erstens: Wenn wir uns die letzten 100 Jahre vergegenwärtigen mit all ihren Kriegen, Finanz- und Konjunkturkrisen, wird deutlich, dass die Öffentliche Lebensversicherung Braunschweig ihre Versprechen an die Kunden jederzeit halten konnte. Das Geschäftsmodell erwies sich als widerstandsfähig und verlässlich. Dafür gibt es nach meinem Verständnis zwei wesentliche Gründe. Zum einen sind wir stets sehr sorgsam mit dem Kapital der Kunden umgegangen. Zum anderen wurde uns ein hohes Vertrauen seitens der Kunden entgegengebracht. Die Tatsache, dass über 25 Prozent der Vermögen in Deutschland in Lebensversicherungen angelegt sind, zeigt, wie anerkannt diese Anlageform ist.
Zweitens: Beim Durchblättern der historischen Akten musste ich manchmal etwas schmunzeln, weil sich die Themen von heute denen von damals ähneln. Da fällt mir beispielsweise die Frage nach einer fairen Rentabilität ein. Heute wie damals wird diskutiert, wie viel von den Überschüssen den Versicherungsnehmern ausgezahlt wird und wie viel beim Unternehmen verbleibt. Wir haben immer gut daran getan, über 90 Prozent den Kunden zuzuschreiben. Auch das Nebeneinander privater und öffentlich-rechtlicher Versicherer war nicht immer einfach.
Bei unserer Zeitreise ist deutlich geworden, wie sehr nicht nur die Versicherung, sondern auch das Leben der Menschen in Braunschweig und Region von Umbrüchen geprägt war. Wo liegen die zukünftigen Herausforderungen für die Lebensversicherung?
Dr. Tourneau: Ich habe von Krisen gesprochen, die immer wieder vorkamen und bewältigt werden mussten. Aber es gab natürlich nicht nur Krisen, sondern beispielsweise auch technische Innovationen, die unser Leben bis heute massiv beeinflussen. Ich denke da zum Beispiel an das Jahr 2007 und den Beginn der Ära des Smartphones oder auch an das Phänomen „Social Media“. Das hat man sich vor 20 Jahren in dieser Form gar nicht vorstellen können.
Beim Blick in die Zukunft neigen wir irrtümlicherweise dazu, die Gegenwart linear fortzuschreiben. Die Herausforderung besteht also darin, zukünftige Brüche vorherzusehen. Aktuell sind wir als Gesellschaft eher pessimistisch unterwegs und reden viel von Krisen. Aber es könnte auch sein, dass wir Sprünge nach vorn erleben werden, beispielsweise in der Energiegewinnung oder beim medizinischen Fortschritt. Das wird auch die Frage der Altersvorsorge und des Renteneintritts massiv beeinflussen. Je stärker wir kognitiv arbeiten, desto länger sind wir arbeitsfähig, da die körperliche Abnutzung im Vergleich zu früheren Zeiten geringer ist.
Auch für unsere Branche ist der demografische Wandel eine große Herausforderung. Etwa im Hinblick auf das offensichtlich dysfunktionale Umlagesystem der gesetzlichen Rentenversicherung, weil zukünftig immer weniger Arbeitende immer mehr Ruheständler zu finanzieren haben und die Menschen zunehmend verstehen, dass sie selbst finanziell vorsorgen müssen. Ein anderes demografisches Thema ist der Fachkräftemangel, der uns als Unternehmen herausfordert, um attraktiv für junge Menschen zu bleiben. Und schließlich stellt uns die heutige Langlebigkeit der Menschen vor die Herausforderung, eine lebenslange Versorgung zu garantieren – ein Modell, dass ohnehin nur die Lebensversicherer anbieten.
Hinzu kommt der aktuelle Strukturwandel, der auch die Region Braunschweig verändern wird. Alte Industrien, von denen Braunschweig bislang lebte, verlieren an Bedeutung. Es kommt darauf an, neue, innovative Industrien anzusiedeln, wobei ich hier für Braunschweig aufgrund der ansässigen Forschungszentren gute Voraussetzungen sehe. Es wäre allerdings gut, wenn die Geschwindigkeit der notwendigen Veränderungen erhöht würde, um diesen Vorteil nicht zu verspielen und zukunftsfähig zu bleiben.
Dr. Tourneau und Dr. Erstmann im Interview
Die Öffentliche Lebensversicherung Braunschweig ist seit 100 Jahren ein stabiler Partner an der Seite der Braunschweigerinnen und Braunschweiger. Das ist doch ein gutes Fundament, um optimistisch in die Zukunft zu blicken?
Dr. Tourneau: Dazu fällt mir ein Zitat des antiken Philosophen Seneca ein, der sinngemäß sagte: Sei nicht unglücklich vor der Zeit. Vieles ist unerwartet gekommen, vieles Erwartete nie geschehen.
Mein Eindruck ist, dass wir uns um viele Dinge sorgen, die dann doch nicht passieren. Und was tatsächlich passiert, das wissen wir nicht. Insofern sollten wir, glaube ich, mit einer gewissen optimistischen Unbefangenheit in die Zukunft blicken, weil es eben doch oft anders kommt als gedacht.
Zugleich verstehe ich, dass die Menschen in einer Welt mit großer Ungewissheit und Veränderungsgeschwindigkeit nach Sicherheit und Stabilität suchen. Und ich glaube, dass wir mit unserem Produkt der Lebensversicherung einen Beitrag dazu leisten können. Das schafft Vertrauen insgesamt und Vertrauen ist wiederum die Basis für Zuversicht. Wenn der Mensch wenig Verlässlichkeit spürt, ist er so in seinen Sorgen gefangen, dass er die Probleme dahinter nicht auflösen kann. Das können banale Dinge wie die Reparatur oder die Wiederherstellung von Sachgütern, aber eben auch menschliche Rückschläge sein, die es zu meistern gilt. Sei es eine vorübergehende Berufsunfähigkeit oder der Verlust eines geliebten Menschen, der die finanzielle Versorgung gewährleistet hat. Wir können zumindest die finanziellen Einbrüche ausgleichen und den Menschen damit Zuversicht geben.
Außerdem legen wir großen Wert darauf, menschliche Anliegen auch im direkten Austausch mit Menschen besprechen zu können. Daher setzen wir weiterhin auf die persönliche Kundenbetreuung in unseren Geschäftsstellen in der Region. Selbstverständlich werden uns digitale Anwendungen und Maschinen bei vielen Dingen entlasten. Aber die direkte Begegnung im privaten und beruflichen Umfeld hat eine andere Qualität. Daher werden wir uns nicht aus der Region zurückziehen, sondern nahbar bleiben und uns um die Anliegen unserer Kunden auch persönlich kümmern.